IMPULS | 06.2024
Antisemitismus in Deutschland vor und nach dem 7.10.23
Am 7. Oktober 2023 hat sich die Lebenswirklichkeit von Jüdinnen und Juden in Deutschland grundlegend verändert. Dieser Wandel und die damit verbundenen Herausforderungen waren Thema einer Podiumsdiskussion auf der re:publica 24 mit Michel Friedman, Rechtsanwalt, Philosoph und Publizist, und Dalia Grinfeld, stellvertretende Direktorin für europäische Angelegenheiten der Anti-Defamation League (ADL). Die Diskussion wurde von Shelly Kupferberg moderiert.
Michel Friedman und Dalia Grinfeld sprachen darüber, dass viele Jüdinnen und Juden heute in einer Zeit gefühlt vor und nach dem 7. Oktober 2023 leben. Der Tag des Überfalls der Terrororganisation Hamas auf Israel markiere einen Wendepunkt, an dem sich die Lebensbedingungen jüdischer Menschen drastisch verschlechterten. War jüdisches Leben in Deutschland schon vorher oft von Angst und Antisemitismus geprägt, so hat sich die Bedrohung seit diesem Datum deutlich verschärft.
Friedman berichtet, dass er seit dem 7. Oktober vermehrt als Israeli wahrgenommen wird, obwohl er keinen besonderen Bezug zu Israel hat und über kein spezielles Wissen zum Nahostkonflikt verfügt. Dies empfinde er als massive Kränkung, da es suggeriere, dass er zuvor kein vollwertiger Bürger der Bundesrepublik Deutschland gewesen sei.
Ein weiteres zentrales Thema war ein Zunehmen der Gewaltbereitschaft bei gleichzeitiger Abnahme der Dialogbereitschaft. Friedman betonte, dass es sich dabei um tief verwurzelten Hass handele. Er wies darauf hin, dass es in der christlich geprägten Gesellschaft tief verankerte Codes gibt, die zu Judenhass führen. Ein Beispiel dafür ist die Erzählung, die Juden hätten Jesus ermordet. Dies zeigt, wie tief Antisemitismus kulturell verankert ist.
Michel Friedman
„Hass ist nicht wählerisch. Hass ist immer
hungrig und nie satt“.
In der Diskussion wurde auch die Frage aufgeworfen, warum ein Konflikt in Israel so viel Hass auf jüdische Menschen in Deutschland auslöst. Dalia Grinfeld und Michel Friedman betonten, dass es in der Verantwortung jedes Einzelnen liege, Empathie zu zeigen und sich für angefeindete Menschen einzusetzen. Dies sei das Schutzversprechen der Menschenrechte in einer Demokratie. Angefeindete und ausgegrenzte Minderheiten zu schützen sei eine Bürgerpflicht in jeder Demokratie und diese Schutzgarantie müsse für alle gelten.
Eine funktionierende Streitkultur, die auf gegenseitigem Respekt beruht, ist Grundvoraussetzung für jede Verhandlung. Antisemitismus und der grundsätzliche Umgang mit Minderheiten betreffen alle Mitglieder der Gesellschaft. Wer Antisemitismus duldet, duldet auch Demokratiefeindlichkeit.
Die Diskussion machte deutlich, dass Antisemitismus ein gesamtgesellschaftliches Problem ist, das alle angeht und dass es einer gemeinsamen Anstrengung bedarf, jüdisches Leben und das Leben anderer marginalisierten Gruppen in Deutschland zu schützen.
Marek Reichert