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IMPULS | 01.2025

Die Kunst des Zuhörens

In einer Welt, in der immer schneller und fast ununterbrochen kommuniziert wird, gerät eine grundlegende menschliche Fähigkeit immer mehr in Bedrängnis: das Zuhören. Dabei halten sich Umfragen zufolge 96 % der Erwachsenen für gute Zuhörer.

«Wir haben zwei Ohren, aber nur einen Mund, um doppelt so viel zu hören wie zu sprechen.»

Epiktet

Wirkliches Zuhören geht weit über das passive Hören von Worten hinaus. Es ist ein aktiver Prozess und der Schlüssel zu einer effektiven Kommunikation.
Konzentriertes Zuhören ist eine Frage der inneren Haltung. Eine Haltung, die von Offenheit und Respekt geprägt ist. Der Psychologe Carl Rogers prägte den Begriff des aktiven Zuhörens. Wer aktiv zuhört, schenkt seinem Gegenüber die ungeteilte Aufmerksamkeit, lässt sich ganz auf ihn oder sie ein. Wer aktiv zuhört, denkt aktiv und bewusst über das Gesagte nach und stellt gezielte Fragen, die das Gespräch vertiefen und Emotionen widerspiegeln. Aktives Zuhören schafft eine Kultur der Offenheit und Wertschätzung, in der Ideen und Bedenken, Sorgen und Wünsche gleichermaßen Raum finden. So zumindest der Idealfall.

Oft verhindert das eigene Mitteilungsbedürfnis bzw. der eigene Redeimpuls aktives Zuhören. Vorgefertigte Meinungen und zu schnelle Urteile, digitale und andere Ablenkungen und das fast schon zur Norm gewordene Multitasking behindern das aktive Zuhören zusätzlich.
Zu einer effektiven Kommunikation gehört selbstverständlich auch, sein Gegenüber ausreden zu lassen. Dies ist eine Frage der Höflichkeit und des Respekts, wird aber im Alltag oft nicht beachtet. Aktives Zuhören erfordert Geduld, eine gewisse Selbstdisziplin und Empathie.

Wer empathisch zuhört, hört nicht nur das Gesagte, sondern nimmt auch wahr, was unausgesprochen bleibt und baut eine emotionale Bindung auf. Diese emotionale Brücke ermöglicht es, einen tieferen Einblick in die Bedürfnisse und Sorgen des Gegenübers zu erlangen und so ein größeres Verständnis aufzubauen.
Was für jede zwischenmenschliche Beziehung gilt, ist natürlich auch im beruflichen Kontext von großer Bedeutung. Durch einfühlsames Zuhören fühlen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verstanden und wertgeschätzt. Man fühlt sich als Individuum wahrgenommen.
Darüber hinaus fördert ein offenes und wertschätzendes Kommunikationsklima die Bereitschaft der Mitarbeitenden, Ideen und Kritik zu äußern, die in der Folge umgesetzt werden können. Darüber hinaus ist einfühlsames Zuhören ein entscheidender Faktor, um in Konfliktsituationen Lösungen zu finden und Barrieren abzubauen. Es stärkt somit das Zusammengehörigkeitsgefühl und fördert Motivation und Loyalität.

Der amerikanische Autor Anthony Alessandra hat vier Typen von Zuhörern definiert:
1. Der Weghörer
Weghörer sind eher introvertiert und es fällt ihnen grundsätzlich schwer, eine Bindung zu anderen Menschen aufzubauen. Dieses Verhalten wirkt auf andere unhöflich oder abweisend und macht Kommunikation vor allem auf der Sachebene möglich.

2. Die selektive Zuhörerin
Diese verfolgt die Inhalte und Themen eines Gesprächs eher oberflächlich. Wenn es um Details oder tiefere Bedeutungen geht, schalten selektive Zuhörerinnen häufig ab und sind sie mit ihren Gedanken häufig längst woanders. Nachfragen sind Fehlanzeige oder selten, die Situation des Gegenübers wird nicht oder sehr oberflächlich erfasst. Zudem ist das Gesagte meistens schnell wieder vergessen.

3. Der bewertende Zuhörer
Dieser hört zwar aufmerksam zu, beginnt aber bereits während des Gesprächs, das Gehörte zu bewerten und eine passende Antwort zu formulieren. Bewertende Zuhörer können häufig Zahlen, Fakten und Themen schnell erfassen. Wer sich in dieser Gruppe wiedererkennt, sollte aktiv daran arbeiten, die Perspektive des Gesprächspartners wirklich zu verstehen und dessen Standpunkt unvoreingenommen anzunehmen. Ideen und Meinungen, die von den eigenen abweichen, sollte er offen gegenüberstehen.

4. Die aktive Zuhörerin
Sie schenkt ihrem Gesprächspartner die volle Aufmerksamkeit, unterdrückt den inneren Monolog, achtet bewusst auf Tonfall, Körpersprache und Wortwahl und stellt gezielte Fragen, um ihr Gegenüber wirklich zu verstehen.

Sie haben es sicher bereits vermutet: Die meisten Menschen sind weder ausschließlich aktive noch bewertende Zuhörer. Vielmehr neigen sie dazu, je nach Situation zwischen verschiedenen Zuhörertypen zu wechseln, wobei eine persönliche Grundtendenz vorliegt. Trotzdem kann und sollte sich jede und jeder um aktives Zuhören bemühen, denn das verbessert nicht nur sein eigenes Verständnis, sondern man wird auch besser verstanden.

Neurowissenschaftliche Studien der Universität Harvard belegen, dass beim Sprechen die gleichen Hirnregionen aktiviert werden wie bei Themen wie Essen, Geld und Sex. Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es offenbar kaum etwas, das unser Gehirn so befriedigt wie das verbale Teilen von Erlebnissen. Die Kehrseite dieser Erkenntnis: Ohne bewusste Selbstkontrolle neigen wir automatisch dazu, Gespräche zu dominieren und den Fokus auf uns selbst zu lenken.

Während Sprechen Energie freisetzt, macht Zuhören müde. Zuhören ist auch anstrengende, harte Arbeit. Je aktiver man zuhört, sich auf den Redner einstellt und Informationen aufnimmt, desto intensiver. Wer ein besserer Zuhörer werden will, muss also einen Prozess durchlaufen, der mit einer Ernährungsumstellung oder einem sportlichen Lebensstil vergleichbar ist.

Marek Reichert