IMPULS | 06.2025
Gehen und Denken
Wer je aufgestanden und rausgegangen ist, weil die Gedanken feststeckten, kennt das Phänomen: Mit dem ersten Schritt ins Freie ändert sich alles. Die Luft ist anders. Die Geräusche, das Licht, die Bewegungen ringsum: All das scheint den inneren Takt neu zu synchronisieren. Mit jedem Schritt, so fühlt es sich an, sortieren sich auch die Gedanken.
Doch warum ist das so? Warum fällt uns das Denken leichter, wenn wir in Bewegung sind? Warum kommen uns ausgerechnet beim ziellosen Umherwandern Lösungen, Ideen und Worte in den Sinn, die sich im Sitzen einfach nicht finden lassen?
„Ich kann nur beim Gehen nachdenken. Bleibe ich stehen, tun dies auch meine Gedanken; mein Kopf bewegt sich im Einklang mit meinen Beinen.“
Was Jean-Jacques Rousseau als persönliche Erfahrung beschreibt, lässt sich heute evolutionär, neurologisch und kulturell untermauern.
Der aufrechte Gang als kultureller und kognitiver Quantensprung
Vor Millionen von Jahren schenkte der aufrechte Gang unseren Vorfahren, unseren wahren „Vor-Gängern“, nicht nur den Weitblick über die Savanne, sondern auch die Freiheit, die Hände für komplexe Tätigkeiten einzusetzen. Diese Fortbewegungsart, das Gehen, ist energetisch so effizient, dass unser Gehirn rund ein Fünftel der Energie für sich beanspruchen konnte.
Um gehen zu können, braucht es komplexe Reizverarbeitung, Koordination, Orientierung. Das Nervensystem, so der Neurobiologe Gerald Hüther, entstand vor allem, um Bewegung zu ermöglichen. Diese kognitiven Grundlagen bildeten später das Fundament für Sprache, Vorstellungskraft und logisches Denken.
Das Gehirn, einst das Steuerungszentrum für Bewegung, ist sensibel für Rhythmus geblieben: Gleichmäßiges Gehen beruhigt den Geist. Wer draußen geht, stimuliert noch dazu seine Sinne. Oft wird berichtet, dass wer allein geht, sich selbst begegnet.
Der Rhythmus der Schritte ist ein Metronom für den Geist
Breit angelegte Studien beweisen, dass es fast nichts Besseres für den Geist gibt als einen Spaziergang im Grünen. Er senkt Stresshormone, bringt die Hirnregionen zur Ruhe, die mit Grübelei assoziiert werden, steigert die Gehirnleistung und senkt das Risiko einer Depression.
Der gleichmäßige Rhythmus des Gehens stabilisiert den Rhythmus des Denkens. Aber nur wenn man freiwillig geht. Das absichtslose Gehen, das lustvolle Flanieren oder Genusswandern schenkt dem Spaziergänger, was der erzwungene Dauermarsch dem Soldaten verweigert.
Wer also über eine knifflige Formulierung grübelt, eine Entscheidung treffen oder einen Perspektivwechsel vollziehen möchte: Der Weg durch den Park, den Wald oder durch unbekannte Straßen ist sicher wirksamer als der stumme Dialog mit dem Bildschirm.
Vom Lustwandeln zum „Denkengehen“
Der Zusammenhang zwischen Gehen und Denken ist kein modernes Wellness-Phänomen. Schon die Peripatetiker in der Antike, die Anhänger der philosophischen Schule Aristoteles‘ und allen voran er selbst, hielten, so wird es zumindest kolportiert, ihre philosophischen Gespräche im Gehen ab. Im 18. und 19. Jahrhundert wurde der Spaziergang zum bürgerlichen Alltag: ein Kontrapunkt zur Repräsentation des Adels, ein Ausdruck von Eigenständigkeit. Der Flaneur der Moderne war und ist ein Beobachter der Welt und zugleich ein Suchender nach sich selbst.
Heute erleben Formate wie „Walkshops“, „Thinking while Walking“ oder „Wandercoaching“ (sperrig benannt, aber durchaus geistvoll) eine neue Blüte. Sie sind Versuche, den Gedanken Beine zu machen, im wahrsten Sinne des Wortes. Dabei zeigt sich: Es geht nicht nur um körperliche Bewegung, sondern um das Zusammenspiel aller Sinne, um die Eigenwahrnehmung des Körpers, um das Gefühl für Raum und Richtung. Wer geht, gibt sich einer Dynamik hin, die nicht zwingend zielgerichtet sein muss, aber immer sinnstiftend ist.
Gehen als Zukunftspraxis
Unsere Arbeitswelt ist zunehmend von Beschleunigung, Verdichtung und Bildschirmpräsenz geprägt. Da wirkt das Gehen fast wie ein subversiver Akt.
Es entzieht sich der reinen Zweckrationalität. Es öffnet. Es entschleunigt. Es verbindet das scheinbar Nebensächliche: eine Bewegung im Freien, mit dem Wesentlichen: dem Denken, Fühlen, Spüren.
Für Organisationen, die Kreativität, Dialog und Innovation fördern wollen, soll das durchaus als Einladung verstanden werden: Meetings zu Fuß, Gespräche beim Spaziergang, Denkprozesse in Bewegung. All das sind keine esoterischen Rituale, sondern biologisch fundierte, kulturell bewährte und geistig fruchtbare Formen der Zusammenarbeit.
Marek Reichert