IMPULS | 06.2024
Von der Wiege bis zur Werkbank
Nach wie vor sind traditionelle Rollenbilder in unserer Gesellschaft fest verankert: Frauen wird häufig die Hauptverantwortung für die Kindeserziehung, die Pflege älterer bzw. chronisch kranker Angehöriger oder die Hausarbeit zugeschrieben, während Männer oft noch als Hauptverdiener gelten. Männer werden nach wie vor in erster Linie mit Bereichen wie Technik, Abenteuer und Politik in Verbindung gebracht.
Diese Rollenbilder werden durch verschiedene Faktoren unterstützt: familiäre Vorbilder, Kinderbücher, Unterrichtsmaterialien, Filme etc.
Die Geschäftsmodelle vieler Unternehmen basieren häufig auf
diesen Rollenbildern. Stereotype werden entweder nicht als solche erkannt oder unkritisch übernommen.
Viele Unternehmen stehen heute vor massiven Problemen durch den sich weiter verschärfenden Fachkräftemangel. Nachhaltige Veränderungen sind notwendig. Diese erfordern ein Ende der ständigen Reproduktion von Stereotypen und sozialen Unterschieden zwischen den Geschlechtern und einen grundlegenden Wandel in der Erziehung.
Der Autor Sascha Verlan schreibt dazu:
„Es bedarf eines grundsätzlichen Wandels beim
Heranwachsen, dass auch Jungen dazu erzogen werden, Sorgeaufgaben zu übernehmen und später als Mann reflektieren: Wie lebe ich meine Beziehungen? Wie übernehme ich da Verantwortung?“
Klar ist, dass diese Herausforderung nicht allein auf individueller Ebene gelöst werden kann. Der Gender Pay Gap, Personalmangel in Betreuungseinrichtungen, veraltete steuerliche Rahmenbedingungen und stereotype Berufs- und Karriereentscheidungen verstärken diese Problematik in der Arbeitswelt und damit auch in der Gesellschaft.
Dieser Teufelskreis, der in der Kindheit beginnt und fälschlicherweise viel zu oft als private Entscheidung abgetan wird, setzt sich fort, wenn nicht aktiv gegengesteuert wird: Frauen übernehmen den Großteil der privaten Care Arbeit, reduzieren ihre Arbeitszeit und fehlen damit den Unternehmen.
Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, sagte dazu im Podcast der Denkwerkstatt m.next:
„Das größte ungehobene wirtschaftliche Potenzial auch am Arbeitsmarkt ist die Erwerbstätigkeit von Frauen in Deutschland. Es gibt kaum ein Land in der Welt, dass Frauen so große Hürden in den Weg stellt bei der Erwerbstätigkeit, wie das in Deutschland der Fall ist. Das fängt an mit unzureichender, mangelnder, schlechter Qualität von Kinderbetreuung bei Kitas, fehlenden Ganztagsschulplätze in der Grundschule etc.“
In der aktuellen Diskussion um die Qualität der Kinderbetreuung in Deutschland rücken neben der Qualität der pädagogischen Betreuung auch die Problematik der Verfügbarkeit von Betreuungsplätzen sowie erhebliche regionale Unterschiede in den Kostenstrukturen der Betreuungseinrichtungen in den Vordergrund. Diese Disparitäten zeigen sich nicht nur innerhalb einzelner Bundesländer, sondern sind insbesondere im Vergleich zwischen den Bundesländern ausgeprägt. Ein prominentes Beispiel für die öffentliche Aufmerksamkeit zu diesem Thema lieferte der Influencer Sebastian Tigges mit seiner Instagram-Kampagne #aktionkitafrei. Durch diese Aktion wurde sichtbar, dass die monatlichen Betreuungskosten je nach Wohnort zwischen 20 € und mehr als 1.000 € liegen können, was die finanzielle Belastung der Familien erheblich beeinflusst.
Um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern, ist neben dem Ausbau der Kinderbetreuungsangebote auch die Umsetzung und Nutzung zeitlich und örtlich flexibler Arbeitsmodelle weiter zu intensivieren. Dies ermöglicht es sowohl Müttern als auch Vätern, ihre beruflichen Verpflichtungen und Betreuungsaufgaben effektiv miteinander zu verbinden und entsprechend den individuellen Bedürfnissen innerhalb der Partnerschaft aufzuteilen.
Fachkräfte und gut ausgebildete Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind das Ergebnis jahrelanger Erziehung und Bildung, die von Eltern, Erzieherinnen und Erziehern, Lehrerinnen und Lehrern oft kostenlos oder gering entlohnt geleistet wird.
Die Unternehmen müssen daher erkennen, dass eine nachhaltige
Lösung des Fachkräftemangels sowohl die Kindeserziehung als
auch die privaten Pflegeverhältnisse der Mitarbeitenden miteinbeziehen
muss.
So können Maßnahmen zur Geschlechtergerechtigkeit den Fachkräftemangel
entscheidend lindern und damit auch betriebswirtschaftliche
Vorteile mit sich bringen.
Marek Reichert